Vertrauen schaffen für eine neue Agenda für den Frieden
«Ein Plus für den Frieden» – so lautete der Slogan der Schweizer Kandidatur für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die erste Schweizer Ratspräsidentschaft im vergangenen Mai war eine gute Gelegenheit, dies in die Praxis umzusetzen. In einem angespannten geopolitischen Umfeld leitete die Schweiz über 25 formelle Ratssitzungen und konnte ihre Fähigkeiten als Brückenbauerin einsetzen. Und obschon die Präsidentschaft in erster Linie eine organisatorische Funktion innehat, setzte die Schweiz inhaltliche Akzente. So rückte sie die Vertrauensbildung und den Schutz der Zivilbevölkerung in den Vordergrund – unter dem Leitmotiv einer «Neuen Agenda für den Frieden».

Arbeitsmethoden: konstruktiver Startschuss für die Präsidentschaft
Die Schweiz setzt sich für eine Verbesserung der Arbeitsmethoden des Sicherheitsrats ein. Mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht sowie der Einbezug von Nicht-Ratsmitgliedern stehen im Zentrum ihres Engagements, das lange zurückreicht. Die Gründung und Koordination der Gruppe «Rechenschaftspflicht, Kohärenz und Transparenz» (ACT) war ein Meilenstein auf diesem Weg. Am 2. Mai feierte die ACT-Gruppe ihr 10-jähriges Bestehen, was einen konstruktiven Start bedeutete für die Schweizer Präsidentschaft. Die Organisation Security Council Report, Liechtenstein und die Schweiz nahmen dies zum Anlass für eine Diskussion über die Entwicklung der Arbeitsmethoden des Sicherheitsrats und die Umsetzung des so genannten «ACT-Verhaltenskodex». Der Kodex zählt mittlerweile 129 Unterzeichner-Staaten, die sich verpflichten, nicht gegen einen glaubwürdigen Resolutionsentwurf zur Verhinderung von Gräueltaten zu stimmen.
Darüber hinaus war die Schweiz wie stets bestrebt, die Arbeit des Rates transparent, unparteiisch und konsultativ zu gestalten und die Öffentlichkeit zeitnah und transparent zu informieren. Zwei innovative Schweizer Ansätze waren ein interaktives, aktuelles Arbeitsprogramm des Rates auf der Website aplusforpeace.ch und die Nutzung neuer Technologien. So erstellte die Genfer Diplo Foundation mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ein Bericht zu den Diskussionen und Ergebnissen der Ratsdebatte «Futureproofing trust for sustaining peace» vom 3. Mai.
Zukunftssicheres Vertrauen durch Normen, Integration und Fakten
«Wo Vertrauen herrscht, ist alles möglich». Mit dieser Aussage prägte Bundesrat Ignazio Cassis die erste Vorzeigeveranstaltung der Schweizer Ratspräsidentschaft am 3. Mai, die sich mit Aufbau von Vertrauen für den Frieden befasste. Die Brieferinnen und Briefer beleuchteten drei entscheidende Bestandteile von Vertrauen: Normen (Volker Türk, UN-Hochkommissar für Menschenrechte), Fakten (ʾFunmi Olonisakin, King's College London) und Inklusion (Cynthia Chigwenya, Afrikanische Jugendbotschafterin für Frieden). Insgesamt nahmen 68 Staaten an der Debatte teil. Ein Grossteil der Rednerinnen und Redner war sich einig, dass Vertrauen in Institutionen ein wichtiger Faktor für den Frieden ist. Jugendvertreterin Cynthia Chigwenya forderte auf, die politischen Institutionen und Prozesse für junge Menschen, deren Vertrauen in die Institutionen schwindet, wieder «attraktiv» zu machen.
Stärkung der Stimmen der Frauen und der Zivilgesellschaft
Inklusion ist der Schlüssel zur Vertrauensbildung, Konfliktlösung und Friedensförderung. Gerade Frauen sind relevante Akteurinnen des Wandels – in jeder Gesellschaft. Nachhaltiger Frieden benötigt deshalb die Teilhabe von Frauen und der lokalen Bevölkerung. Doch die Stimmen der Frauen, insbesondere aus der Zivilgesellschaft, werden im Sicherheitsrat noch zu wenig gehört. Die Schweiz hat sich während ihrer Präsidentschaft intensiv dafür eingesetzt, dies zu ändern. Mit gutem Resultat: 54% aller Expertinnen und Experten, die den Sicherheitsrat im Mai brieften, waren Frauen. Die neun Brieferinnen der Zivilgesellschaft informierten den Rat über Themen wie die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels in der Sahelzone oder den Zusammenhang zwischen Konflikten und Hunger. Ein besonderer Erfolg war, dass zum ersten Mal seit einem Jahr eine Stimme aus der Zivilgesellschaft an einer Ratssitzung zum Jemen zu hören war.
Schutz der Zivilbevölkerung: der Kreislauf von Konflikt und Hunger
«Der Schutz der Zivilbevölkerung ist dringend. Die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ist ein Gebot», betonte Bundespräsident Alain Berset an der jährlichen Debatte zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten am 23. Mai in New York. Die Debatte war ein weiterer mit Spannung erwarteter Moment der Schweizer Ratspräsidentschaft. Unter dem Vorsitz von Bundespräsident Alain Berset erörterten zahlreiche hochrangige Vertreterinnen und Vertreter Massnahmen, um den Teufelskreis zwischen Konflikten und Ernährungsunsicherheit zu durchbrechen – unter ihnen die Präsidenten von Mosambik und Malta. Die Debatte unterstrich die Bedeutung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, ein Thema, für das sich die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen und Sitzstaat des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) seit langem engagiert. Darüber hinaus war die Schweiz auch bei verschiedenen Nebenveranstaltungen, die während der Woche zum Schutz der Zivilbevölkerung stattfanden, äusserst aktiv. Sie ist eine der Mitbegründerinnen dieser Woche und koordiniert sie seit 2018 gemeinsam mit dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und mit zivilgesellschaftlichen Organisationen.
75 Jahre UN-Friedenssicherung
Die vierte Maiwoche stand zusätzlich im Zeichen des 75-Jahr-Jubiläums der UNO-Friedenssicherung. Am 25. Mai ehrte Vize-Bundespräsidentin Viola Amherd im Rahmen einer Kranzniederlegung am UNO-Hauptsitz unter der Leitung des UNO-Generalsekretärs die im Dienst gefallenen Friedenssoldaten. Anschliessend leitete sie im Sicherheitsrat ein Briefing über Frieden und Sicherheit in Afrika, das mit einer Schweigeminute für die gefallenen Friedenssoldaten begann. In ihrer Rede im Namen der Schweiz hob die Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport hervor, dass Friedensmissionen «ein wesentliches Instrument dieses Rates für Frieden und Sicherheit in der Welt» seien. Sie begrüsste den Vorschlag, bestimmte UNO-Beiträge zur Finanzierung von friedensunterstützenden Operationen der Afrikanischen Union (AU) zu verwenden und forderte eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den beiden Organisationen. Ausserdem betonte sie die Notwendigkeit der Einhaltung der Menschenrechte und der regionalen Eigenverantwortung für Friedensoperationen.
Vize-Bundespräsidentin Amherd führte weiter den Vorsitz bei einer geschlossenen hochrangigen Podiumsdiskussion über die Zukunft der UNO-Friedenssicherung. Der Untergeneralsekretär (USG) für Friedenseinsätze, Jean-Pierre Lacroix, die Sonderbeauftragte des Generalsekretärs, Bintou Keita, und der Schweizer Generalmajor Patrick Gauchat sprachen zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Gauchat leitet derzeit die Organisation der UNO zur Überwachung des Waffenstillstands im Nahen Osten (UNTSO). Sie ist zugleich die älteste UNO-Friedensmission und die erste, die von einem Schweizer Offizier geleitet wird. Nach der Podiumsdiskussion begab sich die Schweizer Delegation zum Times Square, wo Vize-Bundespräsidentin Amherd und USG Lacroix der «Inside Out Action» teilnahmen. Das vom Künstler JR entworfenen Fotoprojekt ist eine Hommage an die über zwei Millionen UNO-Friedenssoldatinnen und Soldaten, die in den letzten 75 Jahren Ländern geholfen haben, den schwierigen Weg vom Krieg zum Frieden zu bewältigen.
Spotlight Europa
Seit dem Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine hat Europa einen ungewollt prominenten Platz auf der Tagesordnung des Sicherheitsrates eingenommen. Im Mai hielt der Rat drei formelle Sitzungen zur Lage in der Ukraine ab. Am 30. Mai leitete der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis eine Diskussion über die nukleare Sicherheit in der Ukraine mit Fokus auf dem Kernkraftwerk in Saporischschja. Die Ratsmitglieder bekundeten dabei ihre Unterstützung für die Arbeit der Internationalen Atomenergiebehörde, die sich für den Schutz des Kraftwerks einsetzt.
Ebenfalls im Mai wurde eine Einigung über die Fortsetzung der Schwarzmeer-Initiative erzielt. Sie garantiert eine sichere und ungehinderte Durchfahrt für Getreide- und Düngemitteltransporte von den ukrainischen Häfen aus und trägt damit zur Linderung der weltweiten Nahrungsmittelknappheit bei. Die Initiative fällt zwar nicht in den Zuständigkeitsbereich des Rates, aber mehrere Mitglieder, darunter die Schweiz, betonten bei dessen Sitzungen ihre Bedeutung.
Am 10. Mai erörterte der Rat weiter die Lage in Bosnien und Herzegowina – ein Thema, das der Schweiz aufgrund der zahlreichen Verbindungen zwischen den Gemeinschaften beider Länder besonders am Herzen liegt. Am 4. Mai wurde der Rat schliesslich vom amtierenden Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Bujar Osmani, gebrieft. Das Treffen bot die Gelegenheit, Erfolge und Herausforderungen nach 30 Jahren Zusammenarbeit zwischen der OSZE und der UNO zu beleuchten, insbesondere im Hinblick auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine.
Zwei Resolutionen verabschiedet am 30. Mai
Um der in der Charta verankerten Pflicht zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nachzukommen, kann der Sicherheitsrat besondere politische Missionen und Friedenssicherungseinsätze mandatieren sowie Sanktionen verhängen. Seine Resolutionen sind verbindlich und jede von ihnen ist das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung und mehrerer Verhandlungsrunden. Trotz der allgemein angespannten Atmosphäre nahm der Rat am 30. Mai zwei Resolutionen an. Eine davon verlängerte das Mandat der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI). Am selben Tag verlängerte der Rat die Sanktionsmassnahmen für den Südsudan und das Mandat des zuständigen Expertengremiums um ein weiteres Jahr.
Weichen stellen für eine neue Agenda für den Frieden
«Mit dem Krieg in der Ukraine und den Konflikten im Sudan zwischen den militärischen Fraktionen steht der Rat zwar vor Herausforderungen, aber auch vor der Chance, die Weichen zu stellen», erinnerte die Jugendvertreterin Cynthia Chigwenya den Rat am 3. Mai. Und das zu Recht. Die Schweiz hat während ihrer Präsidentschaft versucht, die Weichen zu stellen, indem sie sich konsequent für die uneingeschränkte Achtung vereinbarter Normen, für klare Fakten und für eine inklusive Entscheidungsfindung eingesetzt hat. Denn dies sind die Zutaten für Vertrauen – dem Katalysator für gemeinsames Handeln.
Mit Blick auf weitere 19 Monate als Ratsmitglied und eine zweite Präsidentschaft im Herbst 2024 wird die Schweiz weiterhin Brücken bauen und Vertrauen schaffen für eine Neue Agenda für den Frieden. Denn die Welt braucht einen geeinten, handlungsfähigen Sicherheitsrat – angesichts der zahlreichen Herausforderungen, die vor uns liegen, mehr denn je.